as Märchen von den Pflastersteinen -  © Ulla Leber

Es war einmal ein schöner sonniger Frühlingstag. Ich glaube, es war ein Sonntag.
Ich saß auf der Bank vor dem Haus und schaute auf den Marktplatz

mit den Pflastersteinen, die im Sonnenlicht glänzten. Während ich so saß und
mir über vielerlei Dinge Gedanken machte, geriet ich in der warmen Sonne ins
Träumen.
Da geschah es, dass plötzlich der kleine Pflasterstein vor mir den Kopf etwas

aus der Erde hervorreckte, sich ein wenig vor mir verbeugte und zu sprechen anfing:
"Hi, mein Name ist Anne Lore. Welch ein schöner Tag heute ist.
Willst du mit mir gehen? Ich werde dir meine Familie und meine Freunde vorstellen."
Und ob ich wollte. Der kleine Pflasterstein - er war weitaus zierlicher und
ebenmäßiger als die übrigen - hüpfte vor mir her, wies hierhin und dorthin und
stellte mir alle Pflasterstein vor, die im Umkreis von unserem Haus ihren Platz hatten.
Es war eine große Familie, zu der Anne Lore gehörte, viel größer als

menschliche Familien zu sein pflegen. Es lebten da noch die Ur-ur-ur-ur-Ahnen.
Da könnt ihr euch denken, wie groß die Familie war.

Mein Staunen nahm kein Ende. Es gab sogar eine Schule. Hier wurden sie gelehrt,
wie sie sich gegenüber genagelten Schuhen, hochhackigen Pumps. Stiefeln oder
was es sonst noch an Schuhwerk gab, verhalten sollten. Auch das Aushalten
von Wagenrädern mußten sie lernen.
"Sogar Panzer sind schon über uns gerollt", hörte ich es sagen. "Da wurde mancher
von uns platt gemacht, das wollen wir nicht noch einmal erleben
", sagte ein
großer platter Stein.
Auch ein Kino hatten sie, ein Kino besonderer Art. Die Filme, die hier ablaufen,
schreibt das Leben selbt. Die Vorstellungen dauern meistens von Beginn der

Dunkelheit bis in die späte Nacht. Es sind nur Liebesfilme die gezeigt werden.
Ihre Leinwand ist nämlich eine Bank, auf der sich bei Dunkelheit verliebte junge
Leute allein glauben und nicht wissen und für möglich halten, dass ihnen
Pflastersteine zuschauen können

Dieses und noch vieles mehr wurde mir von Anne Lore erzählt. Ich fragte den
kleinen Stein vorsichtig, wie es denn bei ihm und den anderen mit der Liebe bestellt
sei.
"Die Liebe, die Liebe ist eine Himmelsgab", trällerte der kleine Stein, um mir dann
traurig zu erzählen, dass es sehr, sehr viele unglückliche Liebe unter ihnen gäbe.

Auch Anne Lore hatte einen Liebsten, zu dem sie nur des Nachts gehen konnte, da
er selbst nicht aus der Erde heraus konnte, weil die Nachbarsteine zu eng um

ihn gesetzt waren. efes Mitleid erfasste mich und ich versprach, beim
nächsten Vollmond den unglücklich Liebenden mit Hilfe einer Spitzhacke

auszugraben und an die Seite von Anne Lore, wo noch Platz war, einzusetzen.
Das Pflastersteinfräulein fing vor Freude an zu tanzen, wobei es aus Versehen
auf meinem Fuß landete. Dann hüpfte es wieder vor mir her bis zu dem Platz vor
der Bank und grub sich wieder vor mir in die Erde ein.
Bald nach diesem Erlebnis war die erste Vollmondnacht. Ich wartete, bis der Mond
voll  am Himmel leuchtete, um dann unter großen Anstrengungen mein
Versprechen wahr zu machen.

Wenn ich jetzt auf meiner Bank sitze, erkenne ich die beiden Pflastersteine
sofort. Denn keine anderen glänzen so wie diese beiden.
Gesprochen aber haben sie nie wieder mit mir.

                                                                                                      

                                                         
       
 

                                                                                       
                                                                     


 


 


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