Zu finden beim Lerato-Verlag 2006 in der Anthologie: "Das geteilte Königreich" |
ie Prinzessin in der Glaskaraffe - © Ulla Leber
für Sarah zum 18. Geburtstag
Es war einmal ein König, der hatte mit seiner Frau einen Knaben. Über die
Geburt des Prinzen und Thronfolgers hatte er sich sehr gefreut und ließ
es dem Sohn an nichts fehlen, denn er sollte später das Königreich
übernehmen, wenn der König und die Königin zu alt waren, um für
das eigene Wohl und das ihrer Untertanen zu sorgen.
Die Königin wünschte sich eine Tochter, die es an Liebreiz und Schönheit
mit ihr aufnehmen könnte und war froh, als sie zwei Jahre später eine
Prinzessin zur Welt brachte. Die Königskinder wuchsen heran, und während
der Prinz sich in den Rechenkünsten hervortat, liebte die Prinzessin das Naschen,
die Unruhe und wollte von jedweder Disziplin nichts wissen. Sie offenbarte
einen starken Willen, wenn sie ihre Wünsche durchsetzen wollte, und ihr
Gezeter hallte durch das ganze Schloss, sobald der König ihr einen
Wunsch verweigerte. Die Königin, die dem Lärm abhold war, erfüllte
dann hin und wieder hinter dem Rücken des Gemahls die Wünsche der
kleinen, ungeduldigen Prinzessin, um wieder königliche Ruhe in die
Gemächer zu bringen. So wusste die Prinzessin früh, wie sie ihren
Kopf durchsetzen konnte.
Es wurde noch eine Prinzessin geboren, die ruhig und zufrieden heranwuchs
und sich, sehr zur Freude des Königs und der Königin, in die Ordnung des
Schlosses einfügte und die Wünsche der königlichen Eltern respektierte.
An einem schönen Sommernachmittag saß der König auf seinem Thron.
Auf dem Haupte trug er die Krone, in der Hand hielt er das Zepter.
Neben ihm stand im Sonnenlicht eine mannshohe Glaskaraffe, die er
einst von einem Zauberer geschenkt bekommen hatte mit dem Hinweis,
sie sei unzerstörbar und der König könne, wenn er wolle, dort einen
Widersacher hineinzaubern. Aber nur der Zauberer, könne diesen wieder
daraus befreien.
Während der König noch nachdachte über Probleme in seinem Reich und
wie er diese am besten lösen könne, erschien die erstgeborene
Prinzessin. Ungeduldig trug sie ihrem königlichen Vater einen ihrer
vielen Wünsche vor. Aber für den König war das Anliegen der Prinzessin
wieder einmal ungebührlich, und er konnte ihrer Bitte nicht entsprechen.
"Du bist eine Prinzessin, du hast alles, was das Herz begehrt, musst du
immer neue Forderungen stellen?", sprach er und schüttelte zornig sein
Haupt.
Die Prinzessin aber wollte sich wie gewohnt nicht fügen. Als sie mit den
Füßen aufstampfte, um ihren Wünschen Nachdruck zu verleihen, und mit
hoher Stimme schrie:
„ Ich will aber, ich will aber!“,
verlor der König endgültig die Geduld und rief:
„ Ich halte es nicht mehr aus mit dieser meiner Tochter, die nicht hören
will, wenn ihr Vater, der König, ihr etwas nicht erlauben kann und will.
„ Ich wünschte, du würdest Ruhe geben!“, fuhr er erbost fort. Er schlug
dabei, ohne zu merken, was er tat, dreimal mit seinem Zepter zornig
auf die große Glaskaraffe neben sich.
„Ich würde dich am liebsten dort einsperren, bis du zur Vernunft
gekommen bist.“
Kaum hatte der König dies ausgesprochen, erfüllte ein Zischen den Raum,
und die Königstochter war in der Glaskaraffe verschwunden. Dort saß sie nun
und wusste nicht, was mit ihr geschehen war. Der König aber erschrak und
rief nach der Königin, die voller Entsetzen ihre erstgeborene Tochter
eingesperrt vorfand.
„Was hast du getan?“, weinte sie, „wie können wir unsere Tochter befreien?“
Der König schickte alle seine Boten aus, um im ganzen Reich und
den Nachbarreichen nach dem Zauberer zu forschen. Aber niemand
fand ihn. Auch die Gelehrten und Zauberer wurden herbeigerufen,
und sie suchten vergebens, die Prinzessin aus der Flasche zu befreien..
Um die Prinzessin in der Karaffe am Leben zu erhalten ,wurden weise
Frauen bestellt, die durch den Flaschenhals die Prinzessin mit Getränken
aus Zauberkräutern ernährten.
Um aber der unglücklichen Königin jeden Tag den Anblick ihres armen
Kindes zu ersparen, wurde die Karaffe in das Kellergewölbe gebracht,
das extra für die Königstochter mit Brokat und schönen Teppichen
hergerichtet worden war. Tagsüber waren nur die weisen Frauen anwesend,
die der Prinzessin Mut zusprachen und sie auch ein wenig in den
Wissenschaften zu unterweisen versuchten. Des Abends, bevor sie sich zur
Ruhe legten, kamen der König und die Königin, um nach der verlorenen
Tochter zu sehen und sie in ihr Nachtgebet einzuschließen.
Die Jahre vergingen, und es näherte sich der 18. Geburtstage der Prinzessin.
„Unser armes Kind, was sollen wir tun?“, jammerte die Königin am
Geburtstag ihrer Tochter.
„Sie soll es schön haben“, beschloss sie und ließ die Karaffe in die große
Halle bringen. Es hatte sich indessen im ganzen Lande herumgesprochen,
dass die Königstochter an diesem Tage 18 Jahre alt wurde und viele
Untertanen kamen, um die Prinzessin zu schauen und ihr zu wünschen,
dass sie befreit werde.
Aus einem fernen Lande kam an diesem Tag zufällig ein junger
Königssohn angeritten, um dem König seine Aufwartung zu machen.
Er trug an seiner Seite ein Schwert, das ihm ebenfalls ein Zauberer
geschenkt hatte.
„Dieses Schwert“, hatte der Zauberer gesagt, „ ist ein Zauberschwert,
mit ihm wirst du eines Tages einem schönen Mädchen die Freiheit schenken.“
Da der Prinz von weit her kam, war ihm die Geschichte der
eingeschlossenen Prinzessin nicht bekannt. Er staunte nicht schlecht, als er
die Halle betrat und das arme eingesperrte Mädchen in der Glaskaraffe
sah, dessen Augen ihn flehentlich ansahen und sein Herz rührten.
Als der Königssohn dem Königspaar seine Aufwartung gemacht
und ihren Kummer um die Prinzessin erfahren hatte, erinnerte er sich
an die Worte des Zauberers. Er nahm sein Schwert und schlug damit
dreimal leicht an die Karaffe. Nach dem dritten Schlag barst sie nach
allen Seiten, und heraus stieg eine wunderschöne junge Frau, die
sich anmutig lächelnd nach allen Seiten verbeugte und ihrem Retter
dankte. Artig, als wäre nichts geschehen, nahm sie an der gedeckten
Tafel neben den königlichen Eltern und den Geschwistern Platz, und alle
waren von ihrem bezaubernden Lächeln und liebreizenden Wesen angetan.
Der Prinz aber verlor sein Herz an sie.
Als er am nächsten Morgen zur Rückreise aufbrechen musste, offenbarte
er der Schönen seine Liebe und fragte, ob sie als seine Gemahlin mit auf
sein Schloss kommen wolle.
"Ich werde dir, wenn ich König bin mein Reich zu Füßen legen, und als
meine Gemahlin wird es dir an nichts mangeln."
"Ich danke Euch, mein Prinz", antwortete die Prinzessin. " Ich werde Euch nie
vergessen, aber ich habe nicht viele Jahre als Gefangene in einer Glaskaraffe
gesessen, um nun als Ehefrau bei Euch gefangen zu sein.
"Lebet wohl, mein Prinz, ziehet Eures Weges, so wie ich den meinen gehen werde."
Da bestieg der Prinz sein Pferd und ritt traurig von dannen.
Die königlichen Eltern aber, die mit Erstaunen den Worten ihrer Tochter gehört
hatten, überlegten, ob aus ihnen noch der alte Widerspruchsgeist zu hören war,
oder aber, ob die Prinzessin sich auf den Weg machen wollte, zu einem
freien, selbstbestimmten Leben.
Und wenn sie nicht gestorben sind, überlegen sie noch heute.