Es geschah am Heiligen Abend -
© Ulla Leber

 geschah am Nachmittag des 24. Dezembers 1999.
Helmut Karl, Kriminalbeamter in Rufbereitschaft, stand in Frankfurt auf dem Römerberg und lauschte dem großen Stadtgeläut. Bei diesem Geläut
verbinden sich die Schläge der Glocken von zehn Innenstadtkirchen zu einer wunderbaren Sinfonie. Jedes Jahr erklingt dieses Konzert am Heiligen Abend um siebzehn Uhr, um für dreißig Minuten eindrucksvoll mahnend über der Stadt zu schwingen.


Der Weihnachtsmarkt, der sich von der Zeil, vorbei an der Paulskirche, über
den Römerberg hinzog, war bereits geschlossen. Die ca. 30 m hohe Tanne auf dem Römerberg schwankte mit ihren Lichtern im leichten Winterwind.
Hunderte von Besuchern  lauschten, über den Platz flanierend oder beeindruckt dastehend dem wunderbaren feierlichen Geläute, dessen Tradition bis ins vierzehnte Jahrhundert zurückgeht.

Helmut Karl hatte in einem Lokal am Römerberg zu Mittag gegessen und in einem kleinen Laden noch ein Geschenk für seine Frau erstanden. Er hoffte, dass es an diesem Tag ruhig bleiben würde und er den Heiligen Abend friedlich mit seiner Frau verbringen könnte.
Er schaute sich in der Menge um und entdeckte Marianne, die Kellnerin des Lokals, in das er eingekehrt war. Er mochte sie, da sie freundlich ihrem Job nachging. Auch sie hatte ihn entdeckt und nickte ihm zu.

Auch Manfred Stuck stand in der Menge, nicht in feierlicher Weihnachtsstimmung, sondern auf der Suche nach seiner Frau Marianne, mit der er  bereits mehrere Jahre verheiratet war. Sie hatten Zwillinge, die, wenn seine Frau im Gasthof arbeitete bei der Oma waren. Sie warteten bereits auf ihn, damit er sie für den Heiligen Abend und die Bescherung abholte.
Plötzlich sah er seine Frau, Hand in Hand mit ihrem Arbeitgeber, fröhlich lachend. Der Wirt legte den Arm um sie,  Marianne schmiegte sich an ihn, und sie küssten sich, beschirmt vom vielstimmigen Klang der Glocken.

Manfred Stuck glaubte, genug gesehen zu haben. Er hatte es schon lange geahnt, gespürt, dass etwas mit seiner Frau nicht stimmte. Sie verweigerte sich ihm, erfand Ausreden, kam nicht pünktlich nach Hause. Er hastete den Römerberg hinunter, nahm die Bahn nach Sachsenhausen, holte die Zwillinge bei der Oma ab und eilte mit ihnen nach Hause.

„Er war seltsam“, meinte die Oma zu ihrem Mann, „hoffentlich ist bei
Marianne und ihm alles in Ordnung.
„Deine Tochter arbeitet einfach zu viel, sie sollte besser zu Hause bleiben und sich um ihre Kinder kümmern.“
„Ja, ja, Kinder, Küche, Kirche“, wies ihn seine Frau zurecht, „das war einmal!
Ich bin froh, dass ich ihr helfen kann und sie die Möglichkeit hat, eigenes Geld
zu verdienen. So kann sie sich doch wenigstens ab und an etwas leisten und kommt auch unter Menschen. Außerdem freue ich mich, wenn die Kinder hier bei uns sind und du doch auch, oder?“


Manfred war inzwischen mit den aufgeregten Zwillingen zu Hause angelangt.
Im festlich geschmückten Wohnzimmer glänzte der Weihnachtsbaum. Die Geschenke waren  darunter aufgebaut. Alle warteten auf die Mutter.
Endlich, gegen neunzehn Uhr kam Marianne, entschuldigte sich für ihre Verspätung: "Es gab in der Wirtschaft viel zu tun!"
Sie zündeten gemeinsam die Kerzen am Baum an, bescherten die Kinder  und öffneten eine Flasche Sekt. Alles war fast wie in den vergangenen Jahren.

Es war zwanzig Uhr, als auf dem zuständigen Revier das Telefon läutete und eine männliche Stimme bat, in der Dreieichstraße 22b im ersten Stock nachzuschauen, da dort etwas Schreckliches geschehen sei. Weitere Fragen des Beamten unterband der Anrufer durch Auflegen des Hörers. Zwei Polizeibeamte machten sich auf den Weg zur angegebenen Adresse. Die Wohnungstür war angelehnt. Was sie im weihnachtlichen Wohnzimmer vorfanden, löste Entsetzen aus.

Es war Zwanzig Uhr fünfundzwanzig, als das Handy des Kriminalbeamten Helmut Karl, der gerade nach einem kürzeren Einsatz auf dem Heimweg war,  klingelte, und er in eben dieses Haus in eben dieser Straße gerufen wurde. Im Flur roch es nach Weihnachtsbraten, und im Wohnzimmer hing noch der Duft von warmem Bienenwachs.

An die Balkontür gefesselt, hing die erwürgte Marianne Stuck, die junge Kellnerin, die ihm mittags noch fröhlich zugewinkt hatte.
In der abgeschlossenen Küche befanden sich in einer Ecke, ängstlich zusammengekauert, die weinenden Zwillinge. Vom Vater keine Spur.
Erst nach einigen Recherchen wurde Manfred Stuck in seinem Schrebergarten gefunden,  erhängt an einer Teppichstange. Die Beamten ermittelten die Großeltern der Zwillinge, unterrichteten sie über die Vorgänge und übergaben ihnen die weinenden und übermüdeten Kinder, die an diesem Heiligen Abend zu Vollwaisen geworden waren.

Der Weihnachtsmorgen dämmerte bereits, als der Kriminalbeamte Helmut Karl durch die schlafende Stadt auf dem Heimweg zu seiner Wohnung in der Vorstadt war. Dort hatte sich seine schwangere Frau, nachdem sie vergeblich viele Stunden auf ihren Mann gewartet hatte, enttäuscht zur Ruhe begeben.
Als er die Wohnung betrat, roch es auch hier noch nach Braten, frischer Tanne und Kerzenwachs.

Unberührt lagen die Weihnachtsgeschenke auf dem Tisch. Er legte sein Geschenk dazu.
Aus dem Kühlschrank holte er sich eine Flasche Henninger. Als das Bier golden und mit Schaumkrone im Glas stand, hob er es und prostete sich zu:
"Frohe Weihnachten!"

Endlich im Bett liegend, fand er keine Ruhe, wie so oft folgten ihm Opfer und Täter in die karge Freizeit und er wusste, dass es kein frohes Weihnachtsfest werden würde. 

Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig.


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