Gegen das Vergessen 

Nach langer Zeit war ich wieder einmal zu Besuch bei meiner Mutter im kleinen Städtchen Hadamar, am Fuße des Westerwaldes. Wie immer war sie damit beschäftigt, den Tisch zu decken und Kuchen aufzutragen, um mich zu bewirten. Sie hatte die Kuchengabeln vergessen. Als ich sie aus der Schrankschublade holen wollte, fand ich zwischen den Gabeln ein Obstmesserchen mit einem Bernsteingriff.
Da war sie wieder gegenwärtig, die Erinnerung an die jüdischen Nachbarn von Gegenüber, die Zeit vor dem Krieg und die Kriegsjahre. Ich ging zum Fenster, schaute über den Marktplatz hinüber zu dem alten zweistöckigen Haus mit dem Giebeldach, in dem ich viele Kindheitstage verbracht hatte. Es war frisch verputzt  mit neuen Fenstern. Die klappernden Fensterläden von damals gab es nicht mehr.

Ich erinnerte mich meiner Freundinnen Ruth und Judith, mit denen ich auf dem Marktplatz gespielt  und mich hinter dem grauen Brunnen versteckt hatte,  wenn ich es rufen hörte: "Mit Judenkindern spielt man nicht!"
Ich erinnerte mich ihrer schönen schwarzen Haare, die zu dicken Flechten gebunden waren, was sich bei meinen dünnen Haaren zu meinem Kummer schwer machen ließ. Dabei waren schöne Zöpfe die Zierde eines deutschen Mädchens, nur, sollten sie blond sein. Oft waren wir untergehakt die Häuser entlang geschritten und hatten dabei gesungen:
Ri-ra-rutschika, wir fahren nach Amerika und wenn das große Wasser kommt, dann kehren wir wieder um.
Dabei hatte ich gehört, wie jemand sagte: “Ach, wenn sie es doch endlich tun würden, es wäre besser für sie.“
Bei Gesprächen auf der Straße hatte ich belauscht, dass der Jude an allem schuld sei. 
„Was haben sie getan?“, fragte ich die Oma.
"Nichts, sie leben schon lange hier, sie haben niemanden etwas zu leide getan", antwortete sie mir.
Auch um das große Kriegerdenkmal mit all den Namen der Söhne der Stadt hatten wir Verstecken gespielt und auch hier hatte ich hören müssen, dass dies ein deutsches Mädchen nicht tut:
"Mit Judenkindern spielt man nicht!"

Meine Freundinnen feierten mit ihrer Familie Sabbat, aßen Matzen und gingen in die kleine Synagoge. Ich war gerne in ihrer Wohnstube und hatte ein wenig Angst vor der Großmutter, wenn sie  alt und verhutzelt mit ihrem runden Rücken am Herd die Ringe abnahm, um in der Glut zu stochern, bis die Flammen hell aufloderten.
Dann musste ich an die Hexe in Hänsel und Gretel denken.
Ich sah sie immer weniger, und eines Tages, waren sie nicht mehr da, meine Freundinnen und es hieß, sie seien heimlich nach Amerika ausgewandert. Ich konnte nicht verstehen, dass sie sich nicht einmal verabschiedet hatten, und ich vermisste sie sehr.
Die Zeit verging. Immer öfter wehten an den Fenstern die roten Fahnen mit dem schwarzen Hakenkreuz im weißen Rund, fanden auf dem unteren Marktplatz Aufmärsche statt von Männern in braunen Hemden und blanken Stiefeln mit gerade ausgerichtetem Blick und erhobenem rechten Arm.
„Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen“, schallte es über den Platz.
Meine Großmutter legte den Rosenkranz nicht mehr aus der Hand und orakelte von Krieg und bösen Zeiten und dass alles ein schlimmes Ende nehmen würde, noch schlimmer als damals im Weltkrieg.
Im Familienkreise wurde oft diskutiert. Der Vater, meinte, dass es uns noch nie so gut gegangen sei wie jetzt, das Geschäft blühe und endlich sei Geld in der Kasse und man könne sich wieder etwas leisten.

Der eine Onkel, Mitglied in der NSDAP, begrüßte die neue Ordnung und trug stolz das Parteiabzeichen, während der andere als alter Sozialdemokrat dagegen wetterte.
Meine Mutter schimpfte auf die „braune Brut“, wie sie die Nationalsozialisten nannte, was sie aber nicht daran hinderte, jede Rede von Goebbels , die aus dem Volksempfänger tönte, mitzuhören.
„Da kann man nichts dagegen sagen, reden kann er, das hat er bei der Jesuiten gelernt“, war ihre Meinung.

Im November, als sich die ersten Nebel über die Stadt legten, wurden in einer Nacht  Fensterscheiben in jüdischen Geschäften eingeworfen, Häuserfassaden verschmiert, die Synagoge demoliert und Hakenkreuze an die Wände geschmiert.
Nur noch  hin und wieder sah ich einen Juden aus der Nachbarschaft mit einem gelben Stern an der Kleidung, scheu an die Häuser gedrückt , den Marktplatz hinuntergehen.
Meine Mutter weigerte sich, Juden im Laden als letzte zu bedienen.
„Bei mir kommt an die Reihe, wer dran ist“, sagte sie und duldete keinen Widerspruch.
„Mariechen, Mariechen, Du bringst uns noch um Kopf und Kragen“, wies sie mein Vater vergeblich zurecht.

Die Tränen meiner Großmutter tropften auf den Rosenkranz, der ihr unermüdlich durch die Finger glitt:
„Was für Zeiten! Der Herr wird uns strafen“, klagte sie mit zitternder Stimme.
„Wir kennen sie ein Leben lang, sie haben niemanden etwas getan.“
Eines Spätabends bekam ich mit, wie mein Großvater aus seiner Bäckerei einen Sack Mehl über die Schulter warf, um ihn bei den jüdischen Nachbarn, die Not litten,  über das Eingangstor zu werfen.
Dann ging es wie ein Lauffeuer von Mund zu Mund: "Morgen werden sie abgeholt, sie kommen in ein Internierungslager!"
Schlimmeres konnte man sich noch nicht vorstellen. Obwohl die böse Ahnung davon mit der Heil- und Pflegeanstalt drohend über der Stadt hing. Denn hier wurden Busse mit geistig und körperlich Kranken angeliefert und Gerüchte durchliefen das Städtchen, dass es da oben „auf dem Berg“ nicht mit rechten Dingen zuginge. Aber etwas Genaueres wusste niemand und wollte auch niemand wissen. Wenn die Sprache auf „den Berg“ kam, wie die Anstalt genannt wurde, tuschelten die Leute hinter vorgehaltener Hand und sahen sich scheu um, ob jemand zuhörte, dem man nicht trauen konnte.
Ich hatte sie auch gesehen, die Busse, die mit vorgezogenen Vorhängen zur Anstalt fuhren, war ihnen mit anderen Kindern nachgelaufen, um zu sehen, wen sie ausluden. Aber wir wurden verjagt und als ich aufgeregt zu Hause davon erzählte, wurde ich ausgeschimpft und es wurde mir verboten, noch einmal zu den Omnibussen zu laufen.

Bevor sie abgeholt wurden, kamen die jüdischen Nachbarn und brachten kleine Erinnerungsstücke, darunter auch 6 Obstmesser mit Bernsteingriffen:
"Ihr seid immer gut zu uns gewesen, damit ihr uns nicht vergesst!", sagten sie und weinten.
Auch Oma, Opa und die Mutter wischten die Tränen aus ihren Augen.
Am nächsten Morgen fuhr ein LKW vor, den sie auf der Ladefläche mit ganz wenig Gepäck besteigen mussten.
Ich sehe den LKW noch den Marktplatz hinunter holpern und höre die Stimme einer Nachbarin:
"Die sehen wie nie wieder!"
Einige wenige Furchtlose winkten ihnen nach. Die meisten Anwohner aber hatten die Vorhänge zugezogen und schauten dahinter heimlich dem Abtransport zu.
Kurze Zeit später wurde das Mobiliar und alles, was sie zurücklassen mussten, versteigert. Andere zogen in die Häuser ein, die sie günstig erworben hatten und waren gewillt, sie auch nicht mehr zu verlassen. Bald war es so, als wären die Juden niemals da gewesen.

Dann wurde ich eingeschult und lernte als Erstes, wann und wo Adolf Hitler geboren wurde. Selbst die Dümmsten konnten auf diese Frage, wie aus der Pistole geschossen antworten: „1889 in Braunau am Inn!“
Als ich es meiner Oma erzählte meinte sie nur: „Da hätte er auch bleiben sollen.“
Dann kam der Krieg, den die Oma so lange vorhergesagt hatte. Ehemänner und Söhne wurden eingezogen, auch mein Vater. Das Geschäft, auf dessen Aufblühen er so stolz gewesen war, musste geschlossen werden.
Mit den gewonnenen Blitzkriegen kam Hoffnung auf, dass es vielleicht nicht so schlimm werden würde.
Wir spielten jetzt auf der Straße Krieg und schwärmten für U-Boot - Kommandanten, deren Boote wie Riesenwale im Atlantik auftauchten  und hörten die Sondermeldungen im Radio.
Dann kamen die schlimmsten Niederlagen.
"Sie stürzen uns ins Unglück", jammerte die Mutter.
Die Oma betete um die Rettung ihrer beiden Söhne und des Schwiegersohnes.
Für meinen Vater in Russland betete sie jeden Abend einen extra Rosenkranz.

Dann kam Stalingrad, das schwärzeste Wort meiner Kindheit. Viele Mütter trauerten schwarz gewandet und gramgebeugt um ihre Söhne.
"Dafür habe ich meine Buben nicht großgezogen", weinte eine Nachbarin, die zwei Söhne verloren hatte.
Der Briefträger überbrachte immer öfter die traurige Botschaft vom Heldentod der Väter und Söhne für Führer, Volk und Vaterland.
Die Bomber dröhnten Tag und Nacht über uns  und brachten Tod und Verderben über Deutschland. Als die großen Städte in Schutt und Asche lagen, luden sie auch über die kleineren ihre Bombenlast aus, und Tiefflieger machten sogar Jagd auf die Bauern auf dem Felde.
Ich schnappte Gerüchte auf von Konzentrationslagern, in denen "Schlimmes" geschehen sollte.
"Großer Gott, rief meine Mutter verzweifelt: " Wo hörst du das nur alles?"
Wenn ich abends ins Bett geschickt wurde, wusste ich, dass die  Mutter  heimlich mit dem Onkel  Radio England hörte. Neugierig wie ich war, hatte ich mich vor die Tür geschlichen und das
“ Bum- bum- bum, hier ist  England...“ gehört.
Dann hatte ich schrecklich Angst um die beiden und um mich. Denn ich wusste, dass man das nicht durfte und es zu den Pflichten eines guten Deutschen gehörte, so jemanden anzuzeigen, auch wenn es die eigene Mutter wäre.

Der Onkel war schon von jemand aus der Gemeindeverwaltung gewarnt worden, dass er bei dem nächsten verlogenen Wort, das er über die Heil- und Pflegeanstalt verbreite, interniert werde.
In den Gaststätten saßen des Öfteren fremde Gestalten, die Gäste in Gespräche über die Anstalt verwickelten, um zu hören, was sie dazu zu sagen hatten und die ihre Ohren überall hatten, wo geredet wurde, besonders wenn die Gespräche leiser wurden.
"Ich bin doch nicht blöde und sage etwas", hörte ich Nachbarn flüstern, "was Genaues weiß man ja auch nicht, sind doch alles nur Gerüchte."
An all das dachte ich, wenn die Angst mich packte und wir in den Keller mussten und ich glaubte, dass wir es auszuhalten hätten  bis zum bitteren Ende.

"Wo bleibst du mit den Gabeln?", dringt die Frage meiner Mutter in meine Gedanken.
Ich tauche aus meinen Erinnerungen auf, schaue auf das Obstmesser und sehe, dass noch alle 6 da sind.
"Darf ich die Messer behalten, Mutter?"
"Aber natürlich, was soll ich damit, sie nehmen schon jahrelang den Platz weg, keiner braucht sie."
Sie ist alt geworden, die Mutter und vergesslich. Sie erinnert sich nicht mehr an die Herkunft der  Messer.
Aber ich werde es niemals vergessen.
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Mehrfach veröffentlicht in Zeitschriften, Anthologien.


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