Rebekka-Rotkäppchen © Ulla Leber

Wie jeden Mittwoch ließ sich die zehnjährige Rebekka auf dem Heimweg von der Schule Zeit. Denn an diesem Wochentag arbeitete die Mutter und kam erst gegen fünfzehn Uhr nach Hause. Rebekka hatte mit Absicht nicht den Bus genommen, da sie bei dem schönen Wetter den Randweg entlang der Landstraße gehen wollte. Sie beabsichtigte nach der Großmutter zu sehen, und da war der Feldweg einfach besser, da er direkt zu deren Haus führte. Mit dem Bus hätte sie erst in die Stadt fahren und dann zurücklaufen müssen.

Das Mädchen schritt auf dem rechten Seitenpfad der Landstraße mehr oder weniger zügig voran. Ihr roter Pferdeschwanz, der ihr auch ohne rote Mütze den Rufnamen "Rotkäppchen" eingebracht hatte, leuchtete in der Mittagssonne. Der Bus, in dem ihre Mitschülerinnen und Mitschüler saßen, war schon an ihr vorbei gefahren und  Jennifer, ihre beste Freundin, hatte ihr am Fenster lachend die Zunge herausgestreckt.

Die Sonne stand  hoch am Himmel. Die Getreidefelder links und rechts der Landstraße wogten im leichten Sommerwind. Mohn- und Kornblumen blühten. Es war  ein herrlicher Sommertag. Schwarze, rote, blaue und silberne Personenwagen schossen an ihr vorbei, wobei der eine oder andere Fahrer Rebekka freundlich zuhupte. Sie war ein wenig schuldbewusst, da ihr klar war, dass die Mutter es nicht gerne sah, wenn sie diesen Weg nahm, und schon gar nicht, sollte sie ihn alleine gehen. Aber was konnte ihr schon passieren? Schließlich lebten sie auf dem Lande, jeder kannte jeden, und man passte auch irgendwie auf einander auf. Große Geheimnisse gab es hier keine. Die Polizei sah
man ganz selten. Von den am Wegesrand stehenden Feldblumen hatte Rebekka  einen Strauß gebunden und sich eine Mohnblume hinter das Ohr gesteckt, eine Mohnblume so rot wie ihr Haar.

Ein Porsche, der in Gegenrichtung gefahren war, drehte mitten auf der Straße und hielt plötzlich mit quietschenden Bremsen neben ihr. Der Fahrer öffnete die Beifahrertür: 
"Na, schönes Kind, so allein des Weges, soll ich Dich mitnehmen? Ich fahre Dich, wohin Du möchtest."
Rebekka überlegte. Es war warm, sie hatte Durst, und eine Blase hatte sie sich auch in den neuen Schuhen gelaufen. Außerdem reizte sie das sportliche Auto, auf dessen Notsitz sie einen Einkaufskorb gesehen hatte, der genau so aussah, wie der Korb ihrer Großmutter, in der diese stets ihre Geldbörse aufbewahrte, damit sie nicht lange nach ihr suchen musste.
Sie überlegte und fand, es müsse ein tolles Gefühl sein, in so einem Luxusschlitten zu sitzen. Sie könnte sich in die Stadt fahren lassen und die Großmutter ein anderes Mal besuchen.
"Rebekka, Rebekka, steige niemals in ein fremdes Auto!", hörte sie  in ihren Überlegungen die eindringliche Stimme der Mutter, als würde sie direkt neben ihr stehen.
"Rotschopf, los, steig ein!"
Rebekka fuhr erschrocken zusammen. Die Stimme des Mannes war plötzlich nicht mehr freundlich sondern  böse fordernd. Beklemmende Angst befiel Rebekka. Hilfe suchend schaute sie die Landstraße entlang, um dann aus Leibeskräften zu rufen:
„Da kommt die Polizei! Hilfe, Hilfe!“

Der Porsche-Fahrer knallte die Tür zu und brauste mit heulendem Motor davon. Rebekka zitterte, war aber auch ein wenig stolz auf sich, dass sie den Fahrer mit einem imaginären Streifenwagen  in die Flucht geschlagen hatte.

Die Blase an ihrem Fuß machte ihr zu schaffen, so dass sie die letzten zwei Kilometer nur langsam vorankam. 

Endlich sah sie das Haus der Großmutter, das etwas abseits am Ende des Fußweges lag. Noch ganz außer Atem klingelte sie, aber niemand öffnete. Sie drückte die Klinke nach unten, die Tür ließ sich öffnen. Rebekka hastete mit einem unguten Gefühl durch den dunklen, langen Flur ins Wohnzimmer. Es wird doch nichts passiert sein?  Im Wohnraum herrschte wirres Durcheinander, Schubladen waren herausgerissen, Inhalte auf dem Boden zerstreut, die leere Geldkassette stand auf dem Tisch. Der Einkaufskorb war nirgends zu sehen. Und die Großmutter?
Rebekka fand sie in der Küche, auf dem Boden liegend, in einer Blutlache. Sie lebte noch. Rebekka stürzte zum Telefon, rief  Polizei und die Mutter.
"Mein Gott, mein Gott, wie kann das geschehen, hier bei uns?", jammerte die Mutter nach dem Eintreffen. Der Notarzt versorgte die Großmutter, die Polizei verrichtete ihre Arbeit, Spuren wurden gesichert. Draußen, wo sich die ersten Schaulustigen versammelt hatten, schien noch immer die Sonne. Aber nichts war mehr so wie vorher. Die beschauliche Gegend hatte ihre Unschuld verloren.

Die Mitteilung von dem Gewaltverbrechen an der Großmutter kam an diesem Abend als letzte Meldung in der Abendschau und - dass ein junges Mädchen ermordet gefunden worden war  in einem Kornfeld, nahe der Landstraße, keine sechzig Kilometer entfernt. Und dass der Täter beider Untaten noch am gleichen Tag verhaftet werden konnte, weil er vorher versucht hatte, ein anderes Mädchen in sein Fahrzeug zu locken, das sich aber das Kennzeichen gemerkt hatte.

Rebekka nahm den Zettel mit dem Kennzeichen, der neben dem Telefon lag und zerriss ihn in tausend Fetzen.

 




 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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