zu finden in der Anthologie:
Das geteilte Königreich

    
ie Prinzessin vom Stein - © Ulla Leber
 für Julia

Es  war einmal eine Prinzessin, die wohnte in einem schönen Schloss, das umgeben war von einem weitläufigen Park. Morgens wurde sie geweckt vom Singen und Zwitschern der Vögel. Dann stand sie auf und schaute aus dem Fenster ihres Prinzessinnen-Zimmers auf den mächtigen grauen Stein, der sich dort auftürmte und nach dem sie und ihre Familie benannt waren. Es war ein Wunderstein, dessen Geheimnis nicht einmal der König und die Königin kannten.
Die Prinzessin hatte noch einen älteren Bruder, den Kronprinzen, und eine ältere Prinzessinnen-Schwester. Sie spielten oft zusammen und tanzten singend um den geheimnisvollen Stein oder versteckten sich hinter ihm, wenn der Lehrer des Schlosses sie zum Unterricht in den Turmsaal rief. Die Königin hatte ihnen aufgetragen, artig und fleißig zu sein, denn nur das eine ihrer Kinder, welches eines Tages eine Prüfung bestehe, könne erfahren, was es mit dem Geheimnis um den grauen Stein auf sich habe.

Die kleine Prinzessin erbat eine Audienz beim Königvater, der viel zu tun hatte und mit Krone und Zepter auf seinem Throne saß und die Minister mit Aufträgen durch das Land scheuchte. Sie versuchte, Näheres um Prüfung und Stein zu ergründen.
"Meine kleine Prinzessin", sprach der König und legte für einen Moment das Zepter zur Seite, um der Prinzessin über das goldene Haar zu streichen. "Das weiß niemand, nicht einmal ich, der ich der König bin."

An einem schönen Sommertag spielten die Königskinder mit ihrem bunten Ball, auf dem das ganze Königreich aufgemalt war, am großen alten Stein. Plötzlich sahen sie erstaunt, wie sich der Ball hoch und höher in die Luft erhob und von einem plötzlich aufkommenden Wind getragen über die turmhohen Mauern des Parks hinausflog.
"Mein schöner Ball", jammerte der Prinz. "Mit ihm wollte ich bei den Wettspielen der Sieger sein."
"Es war auch mein Ball", sagte die ältere Prinzessin. "Es war der wunderbarste im Reich, und mit ihm in der Hand war ich die Schönste im ganzen Land."
Auch die kleine Prinzessin war traurig, denn diesen Ball hatten ihnen der alte König und die alte Königin geschenkt, die nicht mehr regierten, sondern nur noch alt und müde in ihrem großen Königsbett lagen und von alten Zeiten erzählten.
"Dieser Ball gehört euch allen dreien, meine Königskinder", hatte der Großvaterkönig gesagt. "Denn nur, wer teilen kann und Verständnis hat für andere, ist es wert, ein Königskind zu sein."

Daran erinnerte sich die kleine Prinzessin, als sie mit dem Prinzen und der Prinzessinnen-Schwester zum Tor lief, das ausnahmsweise weit geöffnet war, so dass sie hinauslaufen konnten in das Land und zu den Untertanen des Königs, was ihnen sonst nicht erlaubt war. Da sahen sie Kinder, die nicht so feine Kleider trugen wie die Königskinder und auch nicht so prächtige Schuhe hatten, fröhlich mit ihrem Königsball spielen.
"Gebt mir meinen Ball zurück", befahl der Prinz.
"Ich will meinen Ball, sofort und auf der Stelle", schrie die ältere Prinzessin und schüttelte so zornig den Kopf, dass ihr Prinzessinnen-Diadem herunterfiel.
Erschrocken reichte ein kleines Mädchen den Ball der jüngsten Prinzessin, die nichts gesagt hatte. "Wir haben doch nicht gewusst, dass es ein Königsball ist", entschuldigte sie sich und dabei perlten Tränen über ihr Gesicht. Die kleine Prinzessin schaute zum Prinzen und der großen Schwester, die schon begierig die Hände nach dem Ball ausstreckten. Da erinnerte sie sich an die Worte des alten Großvater-Königs, und sie gab den Ball mit einem freundlichen Lächeln zurück an das kleine Mädchen:
"Behalte ihn und spiele mit deinen Freundinnen und Freunden damit. Er soll euch Glück bringen, wir haben schon genug davon."
Erbost liefen daraufhin die größeren Königskinder zur Königin, um über die kleine Prinzessin Klage zu führen. Die aber schritt mit leichtem Herzen zum großen Stein, denn sie wusste, dass sie richtig gehandelt hatte. Sie setzte sich und lehnte sich an den grauen Felsbrocken, der sich seit Ewigkeiten im Schlossgarten
auftürmte, und sie hatte ein wenig Angst, ins Schloss zu ihren zornigen Geschwistern zurückzugehen. Sie schaute auf zum blauen Himmel, an dem hin und wieder eine weiße Schäfchenwolke dahintrieb, und ermüdet von der Aufregung um den Ball fielen ihr die Augen zu.

Plötzlich erwachte sie durch einen gewaltigen Donnerschlag. Sie erschrak nicht wenig, als sich unter Getöse der große Stein öffnete und eine ganz in schwarze Schleier gehüllte Zauberfrau aus ihm hervorschwebte. Diese hob den Zauberstab und klopfte damit dreimal der kleinen Prinzessin auf die goldenen Haare:
"Höre, mein Kind", sagte sie mit tiefer Stimme. "Du hast die Prüfung bestanden. Damit hast du, wenn du 18 Jahre alt wirst drei Wünsche bei mir frei. Überlege dir bis dahin gut, welche Wünsche ich dir erfüllen soll. Am Abend deines 18. Geburtstages, wenn die Schlossuhr zur Geisterstunde 12 Mal schlägt, werde ich mit dem letzten Schlag an deinem Bett stehen und deine Wünsche entgegennehmen und sie erfüllen. Aber du darfst niemandem von unserer Begegnung erzählen, sonst verfallen deine Wünsche. Eine zweite Chance erhältst du nicht, denke daran." Mit einem weiteren Donnerschlag entschwand die Zauberfee, und der graue Stein sah aus wie zuvor.
Die kleine Prinzessin eilte ins Schloss zurück. Beim Abendmahl, als die Dienerinnen und Diener die goldenen Schüsseln aufgetragen hatten, sprach der Königvater zu seinen Kindern: "Ich habe gehört, was sich mit eurem Ball ereignet hat. Eure Schwester hat gehandelt, wie es einer Königstochter geziemt. Und ihr",
sprach er zum Prinzen und der älteren Prinzessin und hob dabei warnend seinen Finger mit dem Königsring, "solltet euch ein Beispiel daran nehmen."

Die kleine Prinzessin mit dem mitfühlenden Herzen aber überlegt seitdem jeden Abend vor dem Einschlafen, was sie sich wünschen soll, und sie ist froh darüber, dass ihr noch einige Jahre bleiben, um sich zu entscheiden.


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